Die "Odyssee", 1. Teil

Große Ehrerbietung brachte man im alten Griechenland den Dichtern und Sängern entgegen. Sie galten als Diener der Musen, der Göttinnen und der Dichtkunst. Gerade sie sammelten und bewahrten ja die heroischen Überlieferungen und Mythen. Den Sängern wurde Ehre und Hochachtung im Volk erwiesen. Die Muse selbst hatte sie ja gelehrt. Der hervorragende Dichter der Antike, Homer, eröffnet uns in seinen Epen eine Welt, die tausende Jahre zurückliegt.
Aus dieser Welt dringt zu uns die Stimme des blinden Alten Demodokos, der die griechischen Helden in dem wunderbaren Epos "Odyssee" des Dichters Homer besingt. Demodokos sang, indem er dazu auf der Lyra spielte. Die Muse hatte ihm eingegeben, die Geschichte von dem kühnen Achilleus und dem Fürsten Odysseus zu verkünden. Er sang, wie der Fürst Odysseus mit seinen Kriegern in den Kampf zog, um Troja zu zerstören.
Troja lag an der Küste Kleinasiens. Zum Feldzug gegen Troja machten sich zahlreiche griechische Stämme auf. Die Stadt war uneinnehmbar. Troja fiel erst nach einem 10-jährigen Krieg durch eine List.
Nach dem Sieg kehrten die griechischen Krieger nach Hause zurück. Der Fürst der Insel Ithaka, der berühmte Heerführer Odysseus, wollte in seine Heimat eilen, wo er seine Frau Penelope und seinen Sohn Telemachos zurückgelassen hatte. Doch es war ihm nicht vergönnt, sie schnell wiederzusehen. Die "Odyssee" beschreibt seine Irrfahrten.
Das Epos beginnt mit einer Anrufung der Muse: "Erzähle mir, Muse, von dem Mann, der lange umherirrte seit der Zeit, als er Troja zerstört hatte. Viele Städte, Menschen und Länder lernte er kennen. Er sorgte sich um die Heimkehr seiner Gefährten, aber dennoch konnte er seine Gefährten nicht retten..."
Viele waren schon zu Hause, nur Odysseus schmachtete auf einer entfernten Insel und dachte immer an die Trennung. Die Nymphe Kalypso hielt ihn gegen seinen Willen in einer tiefen Grotte, weil sie wünschte, dass er ihr Gatte wurde.
Doch schließllich kam das Jahr, in dem es Odysseus bestimmt war, nach Ithaka zurückzukehren. Die Götter versammelten sich zu einer Ratsversammlung. Den Vorsitz führte dort der oberste Gott, Zeus.
Die Tochter des Zeus, die Göttin Pallas Athene, sagte, dass sich ihr Herz zusammenkrampfe wegen des schweren Schicksals des Odysseus. Schon lange leide er durch die Trennung auf der Insel.
Alle Götter hatten Mitleid mit Odysseus und beschlossen, Hermes zu der Nymphe Kalypso zu schicken mit der Anweisung, Odysseus freizugeben.
Hermes überbrachte Kalypso den Willen der Götter und entfernte sich. Sie ging zu Odysseus, der am Ufer saß und weinte.
Sie gab ihm eine Axt, und er begann, hohe Fichten zu fällen.
Der im Schiffsbau erfahrene Odysseus beendete schnell die Arbeit. Er baute ein Floß und errichtete auf ihm einen hohen Mast. Er setzte Segel und fuhr mit günstigem Wind los.
Er fuhr 17 Tage. Doch Poseidon war seit langem zornig auf ihn und erhob einen Sturm.
Im Nu fiel das Floß auseinander. Odysseus hielt sich an einem Balken fest und irrte zwei Tage und Nächte über die stürmische See.
Schließlich sah er eine Insel, doch die scharfen Felsen versperrten ihm den Weg ans Land. Mit letzter Kraft erreichte er die Mündung eines Flusses.
Nachdem er sich ans Ufer gerettet hatte, schlief er ein. Der Besitzer der Insel war Alkinoos, der König der Phaiaken.
Am Morgen fuhr seine Tochter Nausikaa zum Ufer mit einem Wagen, hinter ihr kamen ihre Freundinnen und Dienerinnen. Nachdem Odysseus ihre Stimmen gehört hatte, kam er aus dem Gebüsch hervor, und Nausikaa befahl, dem Fremden Kleidung und Essen zu geben.
Als sich Odysseus gewaschen und angezogen hatte, wunderte sich die Königstochter über sein stattliches Aussehen. Nausikaa erzählte Odysseus, dass sie die Tochter des Königs sei, und lud ihn in die Stadt ein.
Sie riet ihm, in einem kleinen Wald zu warten, bis sie in das väterliche Schloss zurückgekehrt sei. Er solle ihr folgen und zur Königin Arete gehen, ihre Knie umfassen und um Hilfe bitten. Falls diese ihn gnädig aufnehme, werde er bald sein Vaterland und sein Haus wiedersehen.
Bald kam Odysseus in die Stadt und sah einen großen Platz und die festen Mauern der Burg.
Wie die Sonne glänzten die Kupferdächer des Schlosses, und das Tor bestand aus reinem Gold. Lange stand Odysseus verwundert da.
Dann ging er ins Schloss. Er sah dort Heerführer bei einem Festgelage.
Er umfasste demütig die Knie der Königin Arete und bat den König und die Königin, ihm bei der Rückkehr nach Hause zu helfen.
Der König setzte den Fremden auf einen reich verzierten Sessel. Die Königin wollte von Odysseus erfahren, was für ein Unglück ihm zugestoßen sei.
Odysseus antwortete der Königin: "Ich bin der listenreiche Odysseus. Wenn du es wünschst, so erzähle ich dir von meinen Irrfahrten:
Ein Sturm trieb uns zur Stadt der Hekkonen. Wir zerstörten ihre Stadt. Wir machten große Beute, und meine Leute begannen, gierig die Beute zu teilen. Ich versuchte, sie davon zu überzeugen, dass wir umgehend das feindliche Land verlassen müssten.
Unterdessen hatten die Hekkonen ihre kühnen und starken Nachbarn zu Hilfe gerufen. Der Kampf begann erneut.
Von jedem Schiff kamen 6 unserer Gefährten um, und wir konnten uns nur durch Flucht retten. Wieder machten wir uns auf den Weg. Doch Zeus erhob auf dem Meer einen Sturm. 9 Tage wurden wir über das Meer getrieben.
Am 10. Tag gelangten wir zum Land der Lotosesser. Ich schickte zwei meiner zuverlässigsten Leute und einen Dolmetscher voraus, um zu erkunden, wer in diesem Land wohnte.
Die Lotosesser wollten nicht den Tod der von mir geschickten Männer. Sie gaben ihnen nur von der Speise zu essen, von der sie sich selbst ernährten. Nachdem meine Leute den süßen Lotos gekostet hatten, verloren sie den Wunsch, nach Hause zurückzukehren, und vergaßen alles.
Mit Gewalt ließ ich sie zu den Schiffen zurückbringen und gefesselt auf das Deck legen. Danach setzten sich die übrigen an die Ruder, und wir fuhren weiter.
Bald erblickten wir das Land der bösen Kyklopen. Wir gingen in einer ruhigen Bucht an Land. In den Felsen sahen wir eine Höhle.
Ich nahm 12 Gefährten mit und ging zur Höhle. Wir nahmen einen Schlauch voll kostbaren Weines mit uns. Doch der Kyklop Polyphem war gerade nicht zu Hause. Er hütete seine Schafe auf einer Weide in der Nähe.
Bald kehrte der Herr der Höhle zurück und trieb die Schafe und Widder in die Höhle. Den Eingang versperrte er mit einem riesigen Stein. Er machte Feuer und begann, uns auszufragen, wer wir seien und wo unser Schiff angelegt habe.
Ich spürte, dass wir einem blutgierigen Menschenfresser gegenüberstanden, und ich antwortete: "Der Gott Poseidon hat unser Schiff vernichtet. Nur mir und meinen Gefährten ist es gelungen, uns vor dem Tod zu retten."
Da ergriff Polyphem zwei von meinen Gefährten und fraß sie, nachdem er sie am Boden zerschmettert hatte. Ich ging auf Polyphem zu und bot ihm eine Schale von dem köstlichen Wein an.
Dem Kyklopen gefiel der Wein, und er forderte eine weitere Schale. Polyphem geriet in einen Rausch, sein Verstand vernebelte sich. Der Kyklop verlangte noch einmal eine Schale Wein und forderte mich auf, ihm meinen Namen zu nennen.
"Ich heiße Niemand, so nannten mich Vater und Mutter." Polyphem sagte mit einem bösen Lächeln: "Höre, Niemand! Als Gastgeschenk werde ich dich als letzten fressen."
Darauf sank er zu Boden und schlief ein. Da bemerkte ich die Keule des Kyklopen. Ich spitzte ein Ende der Keule mit meinem Schwert an. Dann legten wir sie ins Feuer.
Als das Ende der Keule glühte, hoben wir die Keule hoch und stießen sie dem schlafenden Kyklopen ins Auge. Wild heulte der Menschenfresser auf.
Als sie die Schreie hörten, liefen andere Kyklopen herbei und fragten, was geschehen sei und wer mit List oder Gewalt Polyphem verderben wolle. Er antwortete ihnen aus der Höhle, dass "Niemand" dies tun wolle.
Da wunderten sich die Kyklopen: "Wenn dir niemand etwas tut, weshalb schreist du dann?" Dann gingen sie fort von der Höhle.
Der geblendete Kyklop wälzte den Stein vom Eingang fort und ließ die Schafherde auf die Weide. Er streckte seine langen Arme aus und versuchte, mich und meine Freunde zu ertasten. Er dachte, ich sei so dumm wie er.
Ich band drei Widder zusammen und hängte unter den mittleren von ihnen einen meiner Männer. Der hirnlose Kyklop betastete die Rücken der Widder und konnte sich nicht denken, was unter ihren wolligen Bäuchen versteckt war.
Ich stellte mich als erster wieder auf die Füße und band meine Gefährten los. Auf einem großen Umweg trieben wir die Schafe auf unser Schiff. Die Männer setzten sich an die Ruder, und ich befahl ihnen, schnell aufs offene Meer zu fahren.
Polyphem begann, seinen Vater Poseidon anzurufen, er möge mich daran hindern, nach Hause zurückzukehren, und alle meine Gefährten umkommen lassen. Und wenn ich doch nach Hause zurückkehren sollte, so sollte mich dort großer Kummer erwarten.
Wir setzten unseren Weg über das Meer fort und freuten uns, dass wir dem schrecklichen Unglück und dem Tode entronnen waren.

Ende des 1. Teils